Was es konkret heißt, sich bei der Übersetzungsarbeit auf einen Ansatz zu stützen, der entweder zum Pol der Adäquatheit oder aber zum Pol der Akzeptabilität tendiert, war Gegenstand unserer vorhergehenden Einheit. Mit dieser ideologischen Dichotomie, die weichenstellend in die Entscheidungsprozesse beim Übersetzen eingreift, haben wir die gröbste Unterscheidung getroffen. Es sollte uns jedoch bewusst sein, dass wir noch weit von einer Beschreibung der Kriterien entfernt sind, die ein allgemeines Modell des Übersetzungsprozesses ermöglichen.
Der dänische Sprachgelehrte L. Hjelmslev1 unterscheidet im Text zwischen Inhaltsform und Inhaltssubstanz einerseits und Ausdrucksform und Ausdruckssubstanz andererseits. Damit wird der Text in zwei Ebenen unterteilt – Ausdrucksebene und Inhaltsebene – die jeweils wiederum zwei Aspekte aufweisen – Form und Substanz – so dass folgendes Schema mit vier Kategorien entsteht:
Die Inhaltssubstanz ist in gewisser Weise objektiv und ändert sich nicht von Sprache zu Sprache. Sie bezieht sich auf immanente Eigenschaften, wie beispielsweise auf Farben bezogen, den sichtbaren Bereich der Wellenlänge. So entspricht das, was auf Italienisch «verde» und auf Deutsch «grün» heißt, einer bestimmten Kombination Sensationen, die von den meisten Italienern und Deutschen bei Wellenlängen zwischen 5000 und 5700 Angström wahrgenommen werden. Oberflächlich gesehen mag es einfach scheinen, die Vorstellung von «grün» in andere Sprachen zu übertragen.
Die Inhaltsform: Auf Deutsch hat das Wort «grün» die Inhaltssubstanz, die wir soeben beschrieben haben. Wie Hjelmslev anmerkt, kann diese Inhaltsform aber von Sprache zu Sprache variieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass die semantischen Felder der Formen eines ähnlichen Inhalts in den verschiedenen Sprachen eine komplette Übereinstimmung haben. An folgendem Beispiel veranschaulicht Hjelmslev diese fehlende Übereinstimmung anhand eines Vergleichs zwischen Englisch und Gälisch und den Farben, die von grün bis braun reichen2:
green |
gwyrdd |
glas |
blue |
gray |
llwyd |
brown |
Als weiteres Beispiel für die fehlende Übereinstimmung zwischen Inhaltsform und Inhaltssubstanz der verschiedenen Sprachen, zitiert Hjelmslev das italienische Wort «aborto»: Es deckt das semantische Feld der englischen Wörter «miscarriage» (spontane Abtreibung, Fehlgeburt) und «abortion» (intentionale Abtreibung). Ähnlich deckt das englische Wort «hair» (ebenso wie das deutsche Wort «Haar» Anm. d. Übers.) das semantische Spektrum, das im Italienischen durch die Wörter «pelo» (Körperhaar) und «capello» (Kopfhaar) ausgedrückt wird.
Ausdruckssubstanz: Dies ist der grafische und phonetische Ausdruck des Inhalts. Eine grafische Ausdruckssubstanz hat eine phonetische Ausdrucksform. Als Beispiel führt Hjelmslev den Ortsnamen «Berlin» an (Ausdruckssubstanz), der je nach Sprache bzw. Aussprache (Deutsch, Englisch, Dänisch oder Japanisch) in verschiedene Ausdrucksformen übersetzt d.h. aktualisiert wird3. Eine phonetische Ausdruckssubstanz hat hingegen eine grafische Ausdrucksform. Hierzu führt Hjelmslev das Beispiel des Lautes /got/ an, dem je nach Sprachzugehörigkeit verschiedene Ausdrucksformen und Inhaltssubstanzen entsprechen: Einerseits handelt es sich dabei um die Aussprache von got, d.h. um die grafische Form des Ausdrucks, der im Englischen die Inhaltssubstanz «Vergangenheitsform von get» bezeichnet. Gleichzeitig haben wir es auch mit der ausgesprochenen Form des deutschen Wortes Gott zu tun sowie mit der Aussprache des dänischen godt, welches der Inhaltssubstanz von «gut» entspricht.
Ausdrucksform: Dies ist Art und Weise, wie die Ausdruckssubstanz aktualisiert wird, d.h. die Art und Weise, in der eine grafische Form ausgesprochen oder eine phonetische Form geschrieben wird.
Die von Hjelmslev geprägte Unterscheidung zwischen Ausdrucksebene und Inhaltsebene wird in der Übersetzungswissenschaft von Torop aufgegriffen, der folgende Vorgänge für die Ausdrucksebene (Substanz und Form) des Originals postuliert:
Sie wird mit den Mitteln der Zielsprache und Zielkultur in der Ausdrucksebene des übersetzten Textes rekodiert, während die Inhaltsebene in die Inhaltsebene der Übersetzung transponiert wird4.
Unter Rekodierung versteht man einen linguistischen, formalen und stilistischen Prozess, während Transposition ein Prozess ist, der im Fall des literarischen Textes, die Erschließung des poetischen Modells, der Inhaltsstruktur des Textes impliziert. Die beiden Prozesse laufen jedoch nicht getrennt voneinander ab, sondern stehen auf der methodischen Ebene in einer Wechselbeziehung. Nur im übersetzungswissenschaftlichen Kontext ist eine getrennte Betrachtung von Vorteil, um die verschiedenen Funktionen im Kontext des Übersetzungsprozesses besser zu erfassen.
Werfen wir nun einen Blick zurück in die vorhergehende Einheit und auf die Unterscheidung zwischen der analytischen und der synthetischen Phase. Torop bedient sich eines Modells, das aus einer Kreuzung zwischen dieser Einteilung in Phasen (Analyse-Synthese) und der Einteilung in Prozesse (Rekodierung-Transposition) besteht. Aus diesen beiden Begriffspaaren entsteht erneut ein aus vier Kategorien bestehendes Schema der möglichen Übersetzungen.
Bevor er ein taxonomisches Schema der verschiedenen Übersetzungstypen formuliert, stellt Torop klar, was er unter «adäquater Übersetzung» versteht: Es handelt sich um eine Übersetzung, bei der Transposition und Rekodierung die Phase der Analyse und Synthese durchlaufen, wobei die besonderen Wechselbeziehungen zwischen Inhaltsebene und Ausdrucksebene eines bestimmten Textes beibehalten werden. Es wird, um es mit anderen Worten auszudrücken, an der Dominanten des Originals festgehalten.
Um die besonderen Wechselbeziehungen, die zwischen den beiden Ebenen bestehen, aufrechtzuerhalten bzw. um die Dominante des Originals in die Zielsprache zu übertragen, gibt es jedoch verschiedene Instrumente. Und je nachdem, welches dieser Mittel bevorzugt wird, entstehen wiederum unterschiedliche Übersetzungen, die jedoch gleichermaßen adäquat sein können5. Die Kategorie der adäquaten Übersetzungen wird von Torop weiter unterteilt in Übersetzungen, die im Hinblick auf die «Dominante gewichtet» [dominantnye] sind und solche, die als «autonom» bezeichnet werden. Bei letzterer Unterkategorie handelt es sich um Übersetzungen, die sich nur die isolierte Übertragung einer der beiden Ebenen zur Aufgabe stellen, wie beispielsweise die Übersetzung eines Gedichtes in Prosa6.
Indem er die vier Untergruppen der Unterscheidung in Analyse- und Synthese-Phase mit dem Begriffspaar Transpositon-Rekodierung kombiniert, erstellt Torop folgendes Modell mit acht Unterkategorien7:
Adäquate Übersetzung |
Rekodierung |
Transposition |
Analyse |
Synthese |
Analyse |
Synthese |
Autonomie |
Dominante |
Autonomie |
Dominante |
Autonomie |
Dominante |
Autonomie |
Dominante |
Makrostilistik |
Präzision |
Mikrostilistik |
Zitate |
Thematisch |
Deskriptiv |
Expressiv |
Frei |
Dieses Schema soll in der nächsten Einheit ausdrücklich dargestellt werden.
Literaturhinweise:
HJELMSLEV L. Prolegomena zu einer Sprachtheorie. dt. Übersetzung 1974, München, Hueber-Verlag. Originalausgabe: Omkring Sprogteoriens Grundlæggelse, København, Festskrift udg. af Københavns Universitet, 1943.
TOROP P. Total´nyj perevod [Die totale Übersetzung]. Tartu, Tartu Ülikooli Kirjastus [Editionen der Universität Tartu], 1995. ISBN 9985-56-122-8.
1 Hjelmslev 1975.
2 Hjelmslev 1975, p. 58.
3 Hjelmslev 1975, p. 61.
4 Torop 1995, p. 105.
5 Torop 1995, p. 106.
6 Torop 1995, p. 27.
7 Torop 1995, p. 108.
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