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24 - Sprache, Kultur und Übersetzung

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Wer Einsicht in die Arbeit des Übersetzens gewinnen will, muss zunächst klären, was unter «Sprache» und was unter «Kultur» zu verstehen ist und danach fragen, in welchem Verhältnis Sprache und Kultur zueinander stehen. Übersetzung als etwas rein Sprachliches aufzufassen, ist schon seit geraumer Zeit ebenso undenkbar wie ein Ansatz, der die linguistischen Aspekte des Übersetzens ignoriert und sich ausschließlich mit den kulturellen Wechselbeziehungen abgibt. Im Panorama der Übersetzungswissenschaften mag es beide Ansätze als extreme Pole des Spektrums geben. Hier liegt jedoch die Gefahr einer einseitigen Sichtweise, wie Witherspoon klarstellt:

«If we look at culture from a linguistic point of view, we get a one-sided view of culture. If we look at language from a cultural point of view, we get a one-sided view of language»1.

Unter Rückgriff auf den rhetorischen Tropus der Synekdoche (pars pro toto) - die einen semantisch enger gefassten Begriff (die Sprache) verwendet, um ein weiteres Feld zu bezeichnen (die Kultur) - könne man die gesamte Kultur als «Sprache» begreifen, schreibt der estnische Gelehrte Peeter Torop in seinem grundlegenden Werk Total´nyj perevod [Die totale Übersetzung; in italienischer Sprache bei Guaraldi erschienen, von Bruno Osimo übersetzt: Anm. . Übers.] (Torop lehrt an der Universität Tartu und ist weltweit für seine Studien auf dem Gebiet der übersetzungswissenschaftlich angewandten Semiotik bekannt). In diesem Fall kann von einem "linguistischen" Ansatz zur Übersetzung gesprochen werden, wie wir bereits bei Jakobsón gesehen haben, aber nur weil der Begriff «Linguistik» hier auf viele andere Disziplinen ausgedehnt wird, darunter Semiotik, Kulturanthropologie, Narratologie und Literaturtheorie.

Eine zweite mögliche Auffassung macht «Sprache» nicht als solche zum Gegenstand der Untersuchung, sondern betrachtet sie als Metasprache, d.h. als Instrument zur Beschreibung eines anderen Codes: der Kultur.

Torop aber ist der Ansicht, dass es noch eine dritte Möglichkeit der Beschreibung von Sprache gibt. Danach wird Sprache als eines der vielen Zeichensysteme aufgefasst, die innerhalb einer Kultur aktiv sind. Diese aus Zeichen bestehenden Systeme – wie Musik, Malerei oder eben auch die natürliche Sprache – werden auch als «semiotische Systeme» bezeichnet. Um die Aktivität des Übersetzens zu analysieren, ist es notwendig alle drei Auffassungen von Sprache im Auge zu behalten.

Bei allgemeinen Diskussionen über die Übersetzbarkeit, die sich weder auf spezifische Werke noch auf besondere Umstände beziehen, sondern kulturelle und linguistische Unterschiede an sich unter die Lupe nehmen, ist zu bedenken, dass die Übersetzbarkeit innerhalb einer bestimmten Sprachkombination davon abhängen kann, welche der folgenden vier Fälle zutrifft:

1) Sprachkombinationen, die weder kulturelle noch linguistische Gemeinsamkeiten haben, wie beispielsweise Inuit (Eskimo-Aleutisch) und Englisch, Chinesisch und Italienisch oder Griechisch und Deutsch.

2) Sprachkombinationen, die sich in der linguistischen Struktur ähneln, aber einen anderen kulturellen Hintergrund haben, wie beispielsweise Tschechisch und Slowakisch. Es handelt sich zwar in beiden Fällen um slawische Sprachen. Die Gebiete, die heute zur Tschechischen Republik oder zur Slowakei gehörten, waren jedoch historisch gesehen häufiger getrennt als vereint. So war Böhmen neben langen Zeiten der Selbstverwaltung verschiedentlich deutscher Fremdherrschaft unterworfen, während die Slowakei lange Zeit dem österreichisch-ungarischen Reich unterstand. Vor den Umwälzungen, die Internet und Mondialisierung auslösten, waren auch das britische und nordamerikanische Englisch in den letzten Jahrhunderten einer derart unterschiedlichen kulturellen Entwicklung unterworfen, dass man sie dieser Kategorie zuordnen könnte.

3) Sprachkombinationen, die sich grundlegend in ihrer linguistischen Struktur unterscheiden, aber einen ähnlichen kulturellen Hintergrund haben, wie Ungarisch und Slowakisch. Ungarisch wird dem Finno-Ugrischen Sprachstamm zugerechnet, dem nur wenige andere Sprachen - wie Finnisch und Estnisch - angehören, während Slowakisch eine slawische Sprache ist. Beide Sprachräume unterstanden jedoch über lange Zeitspannen hinweg derselben Zentralregierung (Ungarn oder Österreich bzw. Österreich-Ungarn).

4) Sprachkombinationen, die sowohl im Hinblick auf ihre linguistische Struktur als auch auf den kulturellen Hintergrund eine Affinität aufweisen, wie beispielsweise Italienisch und Französisch2. Es handelt sich um zwei romanische Sprachen und zwei Kulturkreise, in denen der gegenseitige kulturelle Austausch zwischen den Bevölkerungen häufig und intensiv war.

Werden nicht das Sprachpaar und die beiden betreffenden Kulturkreise, sondern der Text selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt, so unterscheidet Torop vier verschiedene Typen der Beziehung zwischen Kultur und Sprache. Denn es gibt:

1) monolinguale und monokulturelle Texte.

2) monolinguale Texte mit multikultureller Prägung (die also, um es anders auszudrücken, auch im Rahmen derselben Gesellschaft mehr als einer Kultur Wort verleihen). Ein Beispiel hierfür ist Queneaus Erzählung Die blauen Blumen und die Art und Weise, wie sich zwei Fabeln aus unterschiedlichen geschichtlichen Zusammenhängen und Gesellschaftszonen verflechten.

3) multilinguale monokulturelle Texte (dies ist der Fall, wenn Ereignisse innerhalb einer Erzählung in unterschiedlichen Mundarten wiedergegeben werden, ein Mittel, das beispielsweise Camilleri verwendet. Weitere Beispiele finden sich in Einheit 5, Fremdsprache und linguistische Selbsterfahrung).

4) multilinguale multikulturelle Texte (wie beispielsweise der Gebrauch der russischen und französischen Sprache in Krieg und Frieden von L. N. Tolstój, um verschiedene Aspekte und verschiedene Klassen der russischen Gesellschaft und der Persönlichkeit von Napoleon darzustellen).

Wer sich über die Übersetzbarkeit eines Textes in eine andere Sprache und Kultur Gedanken macht, mag den einen oder anderen Ansatz wählen. Unabhängig davon sollte man sich vor Augen führen, dass es theoretisch immer - auch unter den ungünstigsten Bedingungen (kulturelle und/oder sprachliche Distanz, Komplexität und Heterogenität des Textes) - möglich ist, Elemente einer bestimmten Sprache und Kultur mit den linguistischen Mitteln des Menschen - d.h. mit einer anderen natürlichen Sprache - auszudrücken. Eine wichtige Voraussetzung für die Übersetzbarkeit eines Textes ist daher, ob sich der Übersetzer der zugrunde liegenden Unterschiede zwischen Ausgangssprache und Zielsprache, zwischen Ausgangskultur und Zielkultur bewusst sind: Nur so kann er Übersetzungsstrategien erarbeiten, die in der Lage sind, die zahlreichen Probleme zu handeln, die mit der Übersetzbarkeit eines Textes verbunden sind.

Literaturhinweise:

KRUPA V. Some remarks on the translation process, in Asian and African Studies, Nr. 4, Bratislava 1968 [1969].

TOROP P., La traducibilità, Übersetzug von Bruno Osimo, in Testo a fronte, Nr. 20, Mailand, März 1999, Marcos y marcos, S. 5-47. ISBN 88-7168-249-1.

TOROP P. Total´nyj perevod [Die totale Übersetzung]. Tartu, Tartu Ülikooli Kirjastus [Editionen der Universität Tartu], 1995. ISBN 9985-56-122-8.

WITHERSPOON G. Language in culture and culture in language, in International Journal of American Linguistics, Band 46, Nr. 1, 1980.


1 «Wer Kultur unter linguistischen Gesichtspunkten betrachtet, erhält eine einseitige Anschauung von Kultur. Wer Sprache unter kulturellen Gesichtspunkten betrachtet, erhält eine einseitige Auffassung von Sprache». Witherspoon 1980, S. 2.
2 Torop 1995.
3 Krupa 1969, S. 56, zitiert nach Torop 1995.


 



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