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Affektivität und Lernprozess

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  Lernprozesse im Allgemeinen und der Spracherwerb im Besonderen stehen mit der affektiven Situation, in der sie stattfinden, in Zusammenhang. Das Kind erlernt die Sprache der Mutter oder der Personen, die die meiste Zeit mit ihm verbringen, wobei es bestimmte Grundbedürfnisse und deren Befriedigung mit Lauten verknüpft, die entsprechende Begriffe zum Ausdruck bringen. Das Erlernen der sogenannten «Muttersprache» (oder der Muttersprachen, wenn es sich um eine zweisprachige Familie handelt) erfolgt durch unbewusste Assoziationen und entzieht sich der rationalen Kontrolle. Da die kindlichen Bedürfnisse überwiegend an die Befriedigung der physiologischen Funktionen und der Exploration der Umwelt verbunden sind, welche vor allem mit dem Mund erfolgt, betreffen die ersten Worte, die ein Kind erlernt, meistens die Mutter oder die oben erwähnten physiologischen Bedürfnisse und deren Befriedigung: Mama, Milch, Schnuller, Aa, hamham.

  Das bedeutet nicht, dass das Kind, solange es noch nicht in der Lage ist, einen Laut hervorzubringen, der einem Objekt oder einer Situation eine affektive Bedeutung zuordnen kann, noch nicht imstande wäre, an das betreffende Objekt oder die betreffende Situation zu denken.

«[...] Gedanken haben eine größere Extension als verbale Sprache und können funktionell als Koordinationsverhalten im Hinblick auf die Aktionen verstanden werden, die auf die Erreichung eines als möglich voraussehbaren Zwecks abzielen» 1.

Es gibt also, anders ausgedrückt, ein subverbales Denken, das der verbalen Sprache vorausgeht und breiter gefächert ist als diese: Der verbale Ausdruck ist sowohl beim Kind als auch beim Erwachsenen ein Versuch der Synthese, der notwendigerweise einen Restbestand an Unausgesprochenem zurück lässt.

  Einige Studien über autistische Kinder, das heißt Kinder, die sich von der Außenwelt abgekapselt haben und ihre Fähigkeit zur Kommunikation nicht entwickeln konnten, zeigten die Korrelation zwischen der (physischen oder psychischen) Abwesenheit einer konstanten Bezugsperson in den ersten, entscheidenden Lebensmonaten und der Entwicklung von Autismus. Die Fähigkeit zu kommunizieren entwickelt sich hauptsächlich im Rahmen der Sphäre, die wir der Einfachheit halber mit Mutter-Kind-Beziehung bezeichnen, auch wenn die betreffende Funktion nicht notwendigerweise von der Mutter selbst erfüllt wird, sondern auch von Ersatzpersonen übernommen werden kann 2.
In dem Maße, wie sich die Interessen des Kindes weiter entwickeln und über die Grenzen des Einverleibens von Nahrung und der Ausscheidung von Exkrementen hinausgehen, erweitern sich auch seine geistigen Fähigkeiten und die kommunikative Kompetenz. Es spielt keine Rolle, ob die Sprachkompetenz in einer spielerischen Situation erworben wird oder im Rahmen eines anderweitig definierten Sozialisationsprozesses erfolgt, der aus der äußeren Welt stammende Stimulus ist grundlegend für die Konstituierung einer affektiven Situation, die mit einem Laut verknüpft wird, wobei sich eine erste approximative Übereinstimmung zwischen Laut und Sinn, zwischen Signifikant und Signifikat herstellt.

  An diesem Punkt angelangt, versucht das Kind mit seinem eigenen Körper, mit seinen Sprechwerkzeugen den Laut wiederzugeben, dessen Bedeutung es erahnt, und wenn es ihm gelingt, versteht es, dass diese von ihm hervorgebrachten Laute vorhersehbare Konsequenzen in der Umwelt nach sich ziehen: Dies legt den Grundstein für eine wirksame verbale Kommunikation.

  In einer derartigen Situation hat der Lernprozess beim Spracherwerb "spontanen" Charakter, ist weder Willensakt noch Frucht einer rationalen Entscheidung. Aus dieser Tatsache können die beiden ersten Schlussfolgerungen gezogen werden:

  • Die Muttersprache (oder Muttersprachen) wird (werden) unbewusst erlernt und ohne zunächst der rationalen Kontrolle unterworfen zu sein.

  • Alles was Kinder lernen, steht mit einer affektiven sinngebenden Beziehung in Zusammenhang, die zwischen dem Kind und dem Objekt bzw. der Person oder der Aktion besteht, die durch das Wort oder die Redewendung bezeichnet werden.

      Sobald das Kind in den weiteren Entwicklungsphasen lernt, abstrakte Begriffe geistig zu verarbeiten, werden diese Begriffe auf ähnliche Weise erworben, und zwar in dem Maße, wie die äußere Umwelt intellektuelle, aber auch affektiv besetzte Anregungen liefern kann. Fehlen solche Anregungen und die Bezugspersonen, die nachgeahmt werden können oder zu denen das Kind eine Beziehung aufrecht erhalten möchte, so kann sich die Sprachgewandtheit nicht entfalten. Ein Beispiel dafür ist die von Truffaut in seinem Film Wilder Junge geschilderte authentische Begebenheit, die sich 1793 zugetragen hat 3.

      Das bedeutet allerdings nicht, wie bereits oben erwähnt, dass ein Individuum ohne Sprachvermögen notwendigerweise in seiner Fähigkeit zur geistigen Verarbeitung beschnitten ist.. « Die geistige Verarbeitung von Urteilen, die das Kind noch nicht verbal ausdrücken kann, sondern in Einschätzungen und dynamischen Vorstellungsmustern kondensiert, die sich in den späteren Aussagen der Erwachsenen wieder finden lassen, ist durch Hunderte von Protokollen nachgewiesen, in denen Erwachsene Kindheitserinnerungen ins Gedächtnis rufen, in denen Gutes und Böses zusammenfließt [...]» 4.   Wie sich ein Erwachsener an die eigene Kindheit erinnert, ist von Mensch zu Mensch verschieden, aber im Allgemeinen werden die Erinnerungen immer spärlicher, je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht. Der Erwachsene hat eine (oder seltener zwei) Muttersprachen erworben, verwendet diese mündlich und schriftlich, ohne sich dessen bewusst zu werden, so wie man sich anderer Automatismen bedient, um zu laufen, zu essen, Fahrrad oder Auto zu fahren. Diese Handlungen setzen keineswegs voraus, dass derjenige, der sie ausführt, sich des Zeitpunkts oder der Situation bewusst ist, in der er gelernt hat, diese Handlungsabläufe auszuführen. In vielen Fällen sind die betreffenden Gedächtnisspuren im Laufe der Zeit ausgelöscht worden. So begeht man eine Handlung, ohne wissen, wie, wann und von wem man gelernt hat, was man dabei tun muss.

      Diese "Gedächtnislücken" hängen mit der auf Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Funktionsweise unseres Gehirns zusammen: Es wäre wohl sehr mühsam, wenn man bei jedem Bissen, den man in den Mund steckt, darüber nachdenken müsste, welche einzelnen Bewegungen zum Kauen und Herunterschlucken erforderlich sind. Wenn wir uns beim Radeln vor die Frage stellten, welche Bewegungsabläufe wir dazu ausführen müssen und uns im Handlungsablauf Bewusstheit darüber verschaffen wollten, auf welche Weise wir uns im Gleichgewicht halten, so könnte der durch diese Entschleierung hervorgerufene Bruch des Automatismus zu verhängnisvollen Folgen führen, nicht zuletzt zum Verlust dieses "automatisch" erlangten Gleichgewichts.

      Ganz ähnlich verhält es sich beim Sprechen oder Schreiben, es läuft automatisch, spontan ab, bis wir durch einen Umstand dazu gezwungen werden, unser Wissen und Können zu hinterfragen und überlegen, ob es wohl angebracht sei, auf diese oder eine andere Art zu sprechen oder zu schreiben.

      Der Einfluss der verbalen auf die subverbale Sprache ist jedoch nicht unilateral, sondern reziprok.
      «Die verbale Sprache interpretiert und ergänzt die subverbale Sprache und dient gleichzeitig zur Erlangung einer stärker vermittelten und artikulierten Interpretation der Realität sowie zur genaueren und stärkeren Regulierung des Bewusstseins und der willkürlichen Handlung » 5.
    Anders ausgedrückt fungiert die verbale Sprache als logische Struktur, in der Gedanken, Vorstellungen und nicht verbal ausgedrückte Emotionen organisiert werden können.

      Da dieser Entwicklungsstand normalerweise im Alter von zwei Jahren erreicht wird und unsere Erinnerungen an das zweite Lebensjahr spärlich sind oder sogar ganz fehlen, ist es evident, dass diese Mechanismen für einen Menschen, der als Erwachsener nicht gerade einen Beruf ausübt, der Sprache (und damit auch metalinguistische Erwägungen) zum Inhalt hat, unbewusst sind und bleiben.

      Mit wachsender Entwicklung gehen die Kinder mehr und mehr von dem subverbalen Ausdrucksverhalten zum Wort über. Doch zeigt sich in Familien, wo ältere Geschwister die Gesten, Laute und Bewegungen der jüngeren Geschwister übersetzen können, dass das subverbale Ausdrucksverhalten durchaus verständlich ist:
    « In der Gruppenbeziehung von Kindern, die derselben Familie angehören, ist immer wieder die rapide Interpretation des subverbalen Kommunikationsverhaltens von jüngeren Geschwistern oder deren häufig unverständlichen Formen der Verbalisierung zu beobachten, wobei eine Übersetzung in verständliche verbale Ausdrücke erfolgt. Darin ist ein Nachweis für den stufenweise erfolgenden Übergang von einer Kommunikationsform zur anderen zu sehen. [...] die Kindersprache [...] ist übersetzbar » 6.
      Letzerer Satz, der die Frage der Interpretation und der Übersetzung anschneidet, wird in den kommenden Kapiteln vorliegenden Kurses neue Bedeutungsinhalte annehmen. Vorerst ging es uns darum zu zeigen, wie der bewusste Einsatz der eigenen Muttersprache im Unterbewusstsein seine Wurzeln findet. In den folgenden Einheiten werden wir uns mit der Frage der linguistischen Selbsterfahrung und Bewusstwerdung im Hinblick auf den Fremdsprachenerwerb beschäftigen.


    Bibliographie

    Bettelheim, B. Love is not enough; the treatment of emotionally disturbed children. Glencoe, Ill., Free Press, 1950, ix, 386 Seiten mit Abb.; 22 cm.

    Bettelheim, B. The empty fortress; infantile autism and the birth of the self. New York, Free Press, 1967 xiv, 484 Seiten mit Abb.; 24 cm.

    Massucco Costa, A. - Fonzi, A. Psicologia del linguaggio, Turin, Boringhieri, 1967.

    Truffaut, F. Wilder Junge [L'enfant sauvage], Frankreich, 1969.


    1 Massucco Costa und Fonzi, pp. 13.
    2 Bettelheim 1950, 1967.
    3 Truffaut 1969.
    4 Massucco Costa und Fonzi, ff. 32.
    5 Massucco Costa und Fonzi, ff. 36.
    6 Massucco Costa und Fonzi, ff. 39.


  • AUF INTERNET
    (englisch)
    Bruno Bettelheim

    François Truffaut


     



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