Beim Lesen laufen verschiedene mentale Prozesse in so rapider Sequenz ab, dass es den Anschein hat,
als ob alles gleichzeitig abliefe. Das Auge nimmt eine Serie graphischer Zeichen (Grapheme) auf, die in vielen
Sprachen von links nach rechts verfolgt werden, in anderen Sprachen aber auch von rechts nach links oder von
unten nach oben gelesen werden können. Diese werden zu Silben, Wörtern, Sätzen, Satzfolgen, Absätzen, Kapiteln
und Texten zusammengefügt.
Wenn der Leser in der ersten Phase dieses Vorgangs den ersten Buchstaben liest, so erfolgt unmittelbar
ein Vergleich mit einem Buchstabenrepertoire (z. B. mit dem lateinischen Alphabet im Deutschen), bis der
betreffende Buchstabe erkannt wird. Sodann geht der Leser zur Entzifferung des folgenden Graphems über,
ohne sich dessen im Geringsten bewusst zu werden.
Beim Hörvorgang geschieht dasselbe mit den Lauten, die zunächst als Phoneme aufgenommen werden
(ein Phonem ist die kleinste phonetische Einheit mit einem potentiellen Bedeutungsinhalt), um danach zu Silben
zusammengefügt zu werden und so weiter, bis zur Entschlüsselung einer Aussage, die einen Sinn ergibt. Im
Unterschied zur Lektüre, wo die Wörter durch einen graphischen Leerraum getrennt sind, ist beim Zuhören
auch die Fähigkeit erforderlich, zu erkennen, wo ein Wort endet und das nächste beginnt, da im gesprochenen
Text die Wörter nicht immer durch eine klare Pause voneinander getrennt sind.
So kommt es häufig vor, dass Ausländer oder Kinder, die zwei oder mehrere Wörter immer in der gleichen
Reihenfolge hören, diese als ein einziges Wort assimilieren, oder dass die Zäsur zwischen zwei Wörtern nicht in der
richtigen Weise erkannt wird (ein Effekt, der in dem Wortspiel "Blumento-Pferde" bzw. "Blumentopf-Erde" zum
Ausdruck kommt).
Wenn der Leser das erste Wort entschlüsselt hat, rekonstruiert er im Geiste die Aussprache dieses Wortes,
die nicht immer mit der Summe der einzelnen, aufeinander folgenden Laute der Grapheme identisch ist. (Beispielsweise
kann das «ch» in dem deutschen Wort « Lachs », wenn es in einem anderen Kontext auftaucht, als harter Reibelaut
ausgesprochen werden, [wie in Lachen], als weicher Reibelaut [wie in Licht]; d.h. es muss eine Auswertung stattfinden,
bei der nicht zutreffende Möglichkeiten verworfen werden.) Umgekehrt wird beim Zuhören oft die gesamte graphische
Darstellung rekonstruiert, die nicht immer eine direkte, eindeutige Entsprechung in der Aussprache haben muss.
Sobald der Leser bzw. Hörer das Klangbild oder das Schriftbild des ersten Wortes dekodiert hat, erfolgt
ein Vergleich mit dem Repertoire von geistig verfügbaren Klang- oder Bildformen, bis eine oder mehrere Entsprechungen
im mentalen Inventar erkannt werden (ist mehr als eine Entsprechung mit Klangbildern vorhanden, so spricht man von
Homophonie, ist mehr als eine graphische Entsprechung vorhanden, so handelt es sich um eine Homographie; darüber
hinaus müssen Entsprechungen berücksichtigt werden, die zwar nicht hundertprozentig zutreffen, aber aufgrund
undeutlicher oder falscher Aussprache, schlecht leserlichem Schriftbild bzw. Rechtschreib- oder Tippfehlern als
mögliche Interpretation in Frage kommen).
In diesem Inventar von klanglichen und bildhaften Strukturen liegt der Unterschied zwischen den
verschiedenen Sprachen und Codes begründet. Und genau dieser Unterschied erklärt, warum die Beziehung zwischen
Signifikant (Laut oder Zeichen) und Signifikat (Bedeutung) willkürlich ist. Wäre dies nicht der Fall, so
müssten alle natürlichen Codes in ihrer Bedeutungsrelation identisch sein. Der Rückgriff auf Entsprechungen
erfolgt also in Hinblick auf ein bestimmtes linguistisches System:
«[...] decoding the source-text linguistic signs with reference to the language system (i. e.
determining the semantic relationships between the words and utterances of the text)» 1.
Wer mehr als eine Sprache beherrscht oder zumindest das Schriftbild bzw. das Klangbild von mehr
als einer Sprache kennt, sucht noch vor der Bestimmung von Entsprechungen nach dem jeweils zutreffenden Code.
Dasselbe geschieht, wenn zwischen Wörtern eines gegebenen Sprachcodes ein Wort auftaucht, das einer anderen
Sprache angehört und daher andere Aussprache- und Rechtschreibregeln anzuwenden ist (zum Beispiel: «zu diesem
Gericht empfehlen wir einen gut temperierten Chianti»).
In einer ersten Phase der Erkennung geht es noch nicht um die Suche nach den möglichen Bedeutungsinhalten
eines Wortes, sondern lediglich um die mentale Reproduktion desselben.
«Das Wort kann wie jedes andere Objekt durch seine Darstellung oder durch sein Gedächtnisbild
substituiert werden» 2.
Einige Autoren haben diese Phase mit der des inneren Gedankens verwechselt, doch handelt
es sich dabei, wie im Folgenden zu zeigen ist, um einen ganz anderen Aspekt.
«Bei früheren Autoren wird die Reproduktion der Wörter im Gedächtnis und die innere Sprache
immer gleichgesetzt. Es handelt sich jedoch in Wirklichkeit um zwei verschiedene Prozesse, die
unterschieden werden müssen» 3.
Es ist also nicht dasselbe, ob man an ein Wort oder an dessen mögliche Bedeutungsinhalte
denkt. Wenn aber der Lesevorgang ungestört erfolgt, so ist der Übergang von der mentalen Reproduktion eines
Wortes und der Suche nach seinen möglichen Bedeutungen rapide.
Die Geschwindigkeit, mit der dieser Prozess oder besser diese Sukzession von Prozessen abläuft,
hängt nicht nur von der Vertrautheit ab, mit der einzelne Buchstaben und Wörter aufgenommen werden (ein
Phänomen, das vor allem die Anfangsstadien des Spracherwerbs charakterisiert). Entscheidend ist hierbei
der Bekanntheitsgrad der graphischen bzw. phonetischen Strukturen, die am häufigsten vorkommen. Denn
effektiv gesehen liest der erfahrene Leser nicht alle Buchstaben von allen Wörtern aller Sätze, sondern
erfasst nur den Mindestanteil, der zur geistigen Ergänzung einer Sinneinheit auf Grundlage des eigenen
mentalen Lexikons erforderlich ist.
Wahrnehmung und Selektion der auditiven oder graphischen Entsprechungen basieren ihrerseits
wiederum auf dem Ko-text und dem Kontext, in dem ein Wort erscheint: Auch in diesem Fall sind Korrekturen
möglich, die mit der enzyklopädischen Bildung des Lesers korrelieren. Wenn der Leser beispielsweise in
einem Kochbuch auf den Begriff der «Astronomie» stößt, so tendiert er kraft seiner Erfahrung dazu,
dieses Wort durch eine mentale Korrektur in «Gastronomie» umzuformen, ein Begriff, dessen Okkurrenz
in diesem Zusammenhang wesentlich wahrscheinlicher ist.
Diese Operation kann auch als «Anpassung der Dekodierung an den referenzialen Kontext der
Aussage» definiert werden: «defining the conceptual content of an utterance by drawing on the referential
context in which it is embedded [...]» 4
Die Lektüre ist ein aktiver geistiger Prozess, der den Leser vor die Aufgabe stellt, die
Aussage des Autors zu rekonstruieren. Die Zeichen, die in irgendeiner Weise zu Papier gebracht wurden
oder die Laute, die mündliche Mitteilungen zusammensetzen, regen den aktiven Geist dazu an, nach möglichen
Alternativen einer Rekonstruktion der Aussage zu suchen.
Beim Lesen hat man einen Ausgangstext vor sich wie bei der interlinguistischen Übersetzung, die
Hauptgegenstand vorliegenden Kurses ist. Das Resultat besteht hierbei allerdings nicht in einem Zieltext,
sondern in einer Gesamtheit von Mutmaßungen und hypothetischen Rekonstruktionen der möglichen Intentionen,
die den Autor beim Verfassen dieses Textes bewegten.
«During the analysis stage, the translator reads/listens to the source text, drawing on background,
encyclopedic knowledge - including specialist domain knowledge and knowledge of text convention - to comprehend
features contained in the text» 5.
Der Ausgangstext mit seinen Worten wird geistig zu einem Gesamteffekt verarbeitet, der nicht in einer
Gesamtheit von Wörtern besteht, d.h. nicht als Zieltext zu betrachten ist, wie das bei der interlinguistischen
Übersetzung der Fall ist, sondern als ein Gefüge verschiedener, schwer zu präzisierender Größen zu sehen ist, die
aber keineswegs verbaler, sondern geistiger Natur sind. Es gibt also in unserer geistigen Sphäre eine Art internen,
oder - wie wir ihn in den vergangenen Kapiteln bezeichnet haben - subverbalen Code, der die Wahrnehmungsmöglichkeiten
auf der Grundlage unserer perzeptiven Erfahrung unterteilt und klassifiziert.
«Wir haben hier einen Prozess, der [...] von außen nach innen verläuft, einen Prozess der Volatilisierung der
Sprache [rec´] in Gedanken [mysl´]. Hier liegen die Struktur dieser Sprache und alle ihre Differenzen im Hinblick
auf die äußere Sprache begründet» 6.
Vygotskij hat Studien mit Kindern durchgeführt, die in bestimmten Entwicklungsphasen eine Sprache einsetzen,
die Piaget aus «egozentrisch» bezeichnet hat, da sich das Kind mit ihr an sich selbst wendet. Vygotskij ist der Ansicht,
dass die Beschäftigung mit der egozentrischen Sprache des Kindes wichtig ist, da sie als Keimform der inneren Sprache des
Erwachsenen zu betrachten ist. Er schreibt: «[...] Sprache an sich kann keineswegs ihren Ausdruck in der Struktur der
äußeren Sprache finden, die naturgemäß ganz anders ist; die Sprachform, die eine ganz besondere Struktur aufweist [...]
muss notwendigerweise auch eine spezielle Ausdrucksform besitzen, da ihr phasischer Aspekt nicht mehr mit dem phasischen
Aspekt der äußeren Sprache übereinstimmt» 7.
Im nächsten Kapitel werden wir eingehender betrachten, worum es sich dabei handelt.
BIBLIOGRAPHIE
BELL, R. T. Psycholinguistic/cognitive approaches. In Routledge Encyclopedia of Translation Studies.
London-New York, Routledge, 1998, S. 185-190. ISBN 0-415-09380-5.
DELISLE J. Translation. An Interpretive Approach. Ottawa, Ottawa University Press, 1988.
VYGOTSKIJ L. S. Denken und Sprache. Psychologische Studien. Mylenie i rec´. Psihologiceskie
issledovanija. Moskvà-Leningrad, Gosudarstvennoe social´no-èkonomiceskoe izdatel´stvo, 1934
1 Delisle 1988.
2 Vygotskij 1990.
3 Vygotskij 1990.
4 Delisle 1988.
5 Bell 1990.
6 Vygotskij 1990.
7 Vygotskij 1990.
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AUF INTERNET (Französisch)
DELISLE J.
AUF INTERNET (englisch)
BELL, R. T. Routledge Encyclopedia of Translation Studies.
VYGOTSKIJ L. S.
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