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10 - Die verbale Kommunikation - Erster Teil

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  Nach relativ diffuser Erörterung der mentalen Prozesse, die beim Lesen, Schreiben und Übersetzen ablaufen, sollen im Folgenden die weniger individuellen Aspekte des Informationsaustausches (Übersetzung) untersucht werden. Dabei liegt der Fokus auf der Frage, was eigentlich geschieht, wenn Sprache als Verständigungsmittel von verschiedenen Individuen eingesetzt wird. Im Mittelpunkt dieser Erklärungsversuche stehen die Schriften des großen russischen Wissenschaftlers Roman Jakobson, dessen interdisziplinäre Erkenntnismethoden grundlegende Beiträge in beeindruckend vielen Wissenschaftzweigen hervorgebracht haben, darunter Linguistik, Semiotik, Literatur- und Übersetzungswissenschaft.

  In seinem 1960 in deutscher Sprache erschienenen Aufsatz Linguistik und Poetik, der auch nach mehr als 40 Jahren wenig an Stellenwert eingebüßt hat, entwickelt Jakobson sein Sprachkonzept. Er beschreibt sechs Elemente, die bestimmenden Charakter für die Kommunikation besitzen und ebenso viele Funktionen.

  Der Sender (addresser) ist die Person, welche in einem bestimmten Kontext eine Botschaft an einen Empfänger (addressee) richtet. Die beiden im Folgenden abgebildeten Schemata stammen aus einem Text von Jakobson:

  Faktoren der Sprachkommunikation
1:

  

CONTEXT

ADDRESSER ------------- MESSAGE ------------- ADDRESSEE

CONTACT

CODE



  six basic functions of verbal communication
2:

  

REFERENTIAL

EMOTIVE ------------- POETIC ------------- CONATIVE

PHATIC

METALINGUAL



  Die referentielle Funktion
Der Kontext hat eine grundlegende Bedeutung. Werden Aussagen aus ihrem Zusammenhang gerissen, so hat dies meistens Sinnverlust oder zumindest Ambiguierung zur Folge. Dies hängt hauptsächlich mit der Ökonomie des Kommunikationsprozesses zusammen, der an allen Aspekten einer Aussage spart, die als selbstverständlich oder implizit vorausgesetzt werden können. Was nicht explizit zur Sprache gebracht wird, muss aber aus dem Kontext geschlossen werden. Wer dem Kontrolleur in der U-Bahn gesteht, dass er keine Karte hat, braucht nicht zu erklären, dass es sich um die Fahrkarte handelt. Der Schaffner versteht schon von allein, dass er einen Schwarzfahrer vor sich hat.


  Nehmen wir einen Satz wie:

  "ich habe einen Kater"

  - ohne Kontext ist nicht verständlich, ob der Sprechende am Abend zuvor zuviel getrunken hat oder ein Haustier männlichen Geschlechts aus der Familie der Feliden besitzt. Opfer dieses Sachverhalts wird Babe, Hauptfigur des Romans The Marathon man von William Goldmann. Babe wird verhört, weil man ihm Informationen aus der Nase ziehen möchte, die er nicht preisgeben kann, weil er sie gar nicht hat. Doch der Folterer stellt ihm immer wieder dieselbe Frage, im Original: «Is it safe?», und Babe antwortet auf jede erdenkliche Art und Weise, wobei er der Frage jedes Mal eine andere der möglichen Bedeutungen zuordnet, alles, nur um der Qual ein Ende zu setzen. Der Folterer hingegen scheint sich absichtlich der Ambiguität der Frage zu bedienen, um sein Opfer durch die hämmernde Wiederholung des Satzes zu zermürben. Andererseits stellt er ihm mit diesem einzigen Satz eine Vielfalt von Fragen, die alle den Zweck haben, seinen Widerstand zu brechen.

  An diesem Beispiel einer Ambiguität sieht man sehr deutlich, was mit der referentiellen Funktion gemeint ist, von der Jakobson spricht und welchen Stellenwert der Zusammenhang für die Aussage hat.

  Auch die Werbesprache nutzt das Prinzip der Ambiguität bei dekontextualisierten Aussagen zur Verhaltenssteuerung, indem sie Polysemie als Mittel für ihre persuasiven Zwecke einsetzt.

  Die emotive Funktion
Bei der emotiven oder expressiven Funktion steht der Sender im Mittelpunkt. Es handelt sich dabei um jenen Teil der Aussage, der über das "Ich" der Kommunikationshandlung, über die Figur des Sprechenden oder Schreibenden, seine Kommunikationshaltung und subjektive Befindlichkeit Auskunft gibt. Als Beispiele für die emotive Funktion führt Jakobson Interjektionen wie "Ach", Hoppla", "Auweia" oder Ähnliches an. Laut Ansicht des Gelehrten sind diese Ausrufe nicht als Satzelemente, sondern als eigenständige Sätze zu betrachten. Denn «Ach», «Hoppla», «Auweia» sind eben komplette Aussagen, die auch als isolierte Äußerungen einen präzisen Eindruck von der Stimmung des Senders vermitteln können. «A man using expressive features to indicate his angry or ironic attitude, conveys ostensible information [...]»3 Jakobson, 1987.

  Auch die Intonation der Aussage kann eine Äußerungsform der emotiven Funktion sein. Hierzu führt Jakobson das Beispiels eines Schauspielers an, der in der Lage war, einen Satz mit 50 Ausdrucksvarianten auszusprechen, die sich auf ebenso viele Situationen bezogen, wobei das Publikum in der Lage war, diese wieder zu erkennen. Die emotive Funktion ist daher ebenfalls wichtig, um die Botschaft auszurichten.

  Die konative Funktion
Um im Rahmen des Dreifundamentenschemas (oder Organonmodell der Sprache, nach K. Bühler, 1934 Anm. d. Übers.) zu bleiben, soll nun die konative d.h. die auf den Empfänger fokussierte Funktion beschrieben werden. Es geht hier mit anderen Worten um das "Du" der Kommunikationssituation, das implizit vorausgesetzt, aber auch in den Vordergrund der Aussage gerückt werden kann, wie dies beispielsweise beim Imperativ oder Vokativ der Fall ist. Beim Vokativ steht der appellative Aspekt im Vordergrund («Erhöre meine Bitte, o Herr!»), beim Imperativ hingegen wird eine Befehl ausgesprochen («Mach, dass du fortkommst!»).

  «Konativ» stammt von dem lateinischen Verb conari d.h. «versuchen» ab und bedeutet «persuasiv». Denn sowohl die mit einem Imperativ ausgesprochenen Befehle als auch die Invokationen des Vokativs befolgen den Zweck, das Verhalten des Empfängers zu beeinflussen.

  In den nächsten Einheiten werden wir uns eingehender mit den anderen drei Funktionen der verbalen Kommunikation befassen.

 

Bibliographie

GOLDMAN W. Marathon man. New York, Delacorte Press, 1974.
Trad. it. Il maratoneta, Milano, Bompiani, 1986.

JAKOBSON R. Essais de linguistique générale. vol. 2, Rapports internes et externes du langage.
Paris. Les Editions de Minuit, 1973.

JAKOBSON R. Linguistik und Poetik, in: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Frankfurt/M. 1971

JAKOBSON R. Poetica e poesia. Questioni di teoria e analisi testuali.
Introduzione di R. Picchio. Traduzioni di G. L. Bravo, R. Buzzo Margari, M. Contini, L. Fontana, C. Graziadei, M. Lenzi.
Torino, Einaudi, 1985. ISBN 88-06-57489-2.

JAKOBSON R. Saggi di linguistica generale.
herausgegeben von L. Heilmann. Übertragung von L. Heilmann und L. Grassi. Mailand, Feltrinelli,
1966. 5. Ausgabe, 1994, ISBN 88-07-10047-9.


1 Jakobsón 1960
2 Jakobsón 1960
3 Jakobsón 1966



AUF INTERNET
(in deutscher Sprache)
JAKOBSÓN R.


 



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