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9 - Die Übersetzung als geistiger Verarbeitungsprozess

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  In den drei vorhergehenden Einheiten haben wir uns mit dem Lesen und Schreiben beschäftigt, zwei geistige Fertigkeiten, die auch zum Übersetzungsprozess gehören. In diesem Zusammenhang wurden einige Phasen beschrieben und hinterfragt, was diese im Hinblick auf die funktionellen Abläufe geistiger Prozesse implizieren. Daraus ging hervor, dass selbst unter Bedingungen des codesharings, d.h. ohne Übertragung in eine andere Sprache, verschiedene Übersetzungsleistungen erbracht werden müssen. Es gibt dabei eine Zwischenphase, wo Wörter bzw. Wortgruppen in eine individuelle mentale Sprache übersetzt werden, die nur für das betreffende Individuum übersetzbar ist.

  Diese Analyse war notwendig, um ein Bewusstsein von der Vielfalt der geistigen Prozesse zu entwickeln, die bei den beschriebenen Tätigkeiten innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne ablaufen. Darüber hinaus findet eine ständige Umfokussierung zwischen mikro- und makroanalytischen Aspekten statt. Das bedeutet einen kontinuierlichen Abgleich der Bedeutungen von Einzelaussagen mit dem Sinn, den der Text als Ganzes hat. Ja, zwischen der Bedeutung des einzelnen Textes und der globalen Bedeutung aller Texte, die bewusst oder unbewusst den Intertext
1 darstellen: die Gesamtheit der vernetzten intertextualen Assoziationen, mit der die Übersetzung wohl oder übel eine Integrationsleistung vollbringen muss.

  Von dieser Analyse ausgehend, muss jedoch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die verschiedenen Prozesse der geistigen Verarbeitung verbaler Informationen simultan, interdependent und holistisch
2 ablaufen. Um die mentalen Abläufe beim Übersetzen zu beschreiben, muss daher der Mechanismus dieser simultanen "Mikroaktivitäten" bereits vorausgesetzt werden. Es gilt, einen systemischen Ansatz zu finden, der die Analyse des Übersetzungsprozesses in eine globale Perspektive rückt.

  Ein wichtiger Theoretiker der Übersetzer, James S. Holmes, hat einen mentalen Erklärungsvorschlag für Übersetzungsprozesse unterbreitet. Er bezeichnet seinen Ansatz als «mapping theory» und definiert diese zusammenfassend in folgendem Zitat:

  «I have suggested that actually the translation process is a multi-level process; while we are translating sentences, we have a map of the original text in our minds and at the same time a map of the kind of text we want to produce in the target language. Even as we translate serially, we have this structural concept so that each sentence in our translation is determined not only by the sentence in the original but by the two maps of the original text and of the translated text which we are carrying along as we translate»
3.


  Man könnte also sagen, dass der Übersetzungsprozess ein komplexes System ist, in dem Texterschließung, Verarbeitung und die Perspektive des erstellten Textes interdependente Bausteine einer gemeinsamen Struktur darstellen. Mit Hönig kann daher die Existenz einer Art "zentralen Verarbeitungseinheit" postuliert werden. Ein "Regiepult", an dem die verschiedenen mentalen Prozesse, die zum Lesen, Interpretieren und Schreiben notwendig sind, vernetzt werden, wobei eine Planskizze des zukünftigen Textes projiziert wird.

  Betrachten wir die von Hönig beschriebenen Schritte im Einzelnen. Damit er überhaupt übersetzt werden kann, wird der Ausgangstext aus seinem natürlichen Kontext "gerissen" und in die Vorstellungswelt des Übersetzers projiziert. So arbeitet dieser im Grunde nicht an dem Ausgangtext selbst, sondern an dessen mentaler Projektion. Es gibt zwei Formen der Verarbeitung, kontrollierbare und nicht kontrollierbare Verarbeitungsinstanzen. Das erste Textverständnis entwickelt sich aus der intuitiven Verarbeitungsinstanz. Es besteht in der Anwendung vorbestehender Bedeutungsmuster, die der Übersetzer kraft seiner perzeptiven Erfahrung erworben hat. Diese semantischen Muster unterscheiden sich begrifflich nicht allzu sehr von den Kognitiven Typen, die im Rahmen des Kapitels zur Lektüre erörtert wurden.

  Die Ökonomie des Lesens - d.h. die Aufnahme von Textbausteinen und Sätzen, die eine Rekonstruktion des Ungelesenen erlauben - findet eine Entsprechung in diesen semantischen Mustern, wobei im Kopf des Übersetzenden Ähnlichkeiten zwischen den Aussagen des Ausgangstextes mit bereits assimilierten - gelesenen oder gehörten - Aussagen hergestellt werden.

  Semantische Muster sind Strukturen des Langzeitgedächtnisses, welche die Erwartungen des Lesers bzw. seine Bedeutungspostulate, widerspiegeln. Dabei liegt bereits eine Ausrichtung auf die zu erstellende Übersetzung vor, auch wenn diese vorerst nur als Keimform einer mentalen Planskizze im Kopfe des Betreffenden existiert.

  Auf Makroebene besteht die Übersetzungsstrategie in der vernetzenden Integration von mentalen Projektionen des Originaltextes, Übersetzungsentwürfen und nicht kontrollierten Verarbeitungsinstanzen. Für den erfahrenen Übersetzer ist dies ein quasi automatisch ablaufender Vorgang. Dank der übersetzungswissenschaftlichen Analyse des Originaltextes kann diese Integrationsleistung jedoch auf eine bewusstere Ebene gehoben werden.

  Die Hypothese einer nicht kontrollierten Verarbeitungsinstanz kam im Rahmen der Auswertung von thinking aloud protocols auf. Dabei wurden einige Übersetzer aufgefordert, laut auszusprechen, was sie bei ihrer Arbeit taten oder dachten. Die durch diese Protokolle beschriebenen mentalen Prozesse wurden als "kontrollierte Verarbeitungsinstanz" bezeichnet. Nicht kontrollierte Aspekte der Übersetzungsleistung sind daher als geistige Tätigkeiten definiert, die aus dem Protokoll des lauten Denkens herausfallen. Der Übersetzer weiß, dass bestimmte Mechanismen eingreifen und in diesem Sinne kann von bewusster oder kontrollierter Verarbeitung gesprochen werden. Da diese Vorgänge letztlich automatisch ablaufen, haben sie aber auch eine unbewusste Komponente.

  Ein Übersetzer, der sich ausschließlich auf nicht kontrollierte Verarbeitungsinstanzen verlässt, hat keine Gesamtstrategie. Es wird ihm daher schwerer fallen, dem Zieltext als Gesamtheit Rechnung zu tragen. Ein solcher Übersetzer, dessen Existenz wir hier unterstellen wollen, liefert sich den Sprachreflexen aus, die automatisch bei der Wahrnehmung des Originals ausgelöst werden. Zur Ergänzung seiner translatorischen Kompetenz muss er sich eine rationale makrotextuelle Strategie erarbeiten.

 

Bibliographie

HÖNIG H. G. Holmes "Mapping Theory" and the Landscape of Mental Translation Processes,
in Leuven-Zwart & Naaijkens 1991, S. 77-89.

HOLMES J. S. Translated! Papers on Literary Translation and Translation Studies
herausgegeben von R. van den Broeck. Amsterdam, Rodopi, 1988.

van LEUVEN-ZWART K. M. & NAAIJKENS T., a c. di, Translations Studies: The State of the Art. Proceedings of the first James S. Holmes Symposium on Translation Studies,
Amsterdam-Atlanta, Rodopi, 1991. ISBN 90-5183-257-5.

TOROP P. Total´nyj perevod.
Tartu, Tartu Ülikooli Kirjastus, 1995. ISBN 9985-56-122-8.


1 Torop 1995, S. 119-163.
2 Hönig 1991, S. 78.
3 Holmes 1988, S.96.



AUF INTERNET
(in Spanisch)
LEUVEN-ZWART, K. M., y T. NAAIJKENS



AUF INTERNET
(auf Englisch)
TOROP P.


 



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