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14 - Jakobson und die Übersetzung - Zweiter Teil

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  Wenn man sich mit interlingualer Übersetzung befasst, - d.h. mit dem offensichtlichsten Aspekt der Translationsleistungen, die ein professioneller Übersetzer vollbringt - kommt man kaum umhin, sich mit dem Dilemma der Äquivalenz und mit deren Machbarkeit zu befassen. Da es schwer ist, in zwei Sprachen Wortentsprechungen zu finden, die semantisch deckungsgleich sind
1, werden viel häufiger Aussagen in ihrer Gesamtheit übersetzt als einzelne Codeeinheiten. «The translator recodes and transmits a message received from another source» 2 . Als Beispiel führt Jakobson folgenden russischen Satz an: «prinesi syru i tvorogu» 3 der wörtlich ins Englische übertragen, folgendermaßen lautet: «bring cheese and cottage cheese».

  In dieser englischen Version des russischen Satzes wiederholt sich «cheese», da «cottage cheese» (Hüttenkäse) in der angelsächsischen Kultur in die weiter gefasste semantische Kategorie «cheese» (Käse) fällt. Die Übersetzung mit ihrer partiellen Wiederholung klingt daher - für die Ohren eines anglophonen Adressaten - absurd in seiner Redundanz. Dass cottage cheese zum cheese gehört, während tvoróg nicht einer der vielen syr ist, stellt den Übersetzer vor ein Kommunikationsproblem: Die semantischen Felder der betreffenden Wörter überschneiden sich nicht, denn der russische Ausdruck «syr» bezieht sich ausschließlich auf gereiften Käse.

  In einer rein denotativen Textsorte wie beispielsweise technischer Dokumentation kann man die Unterschiede in den semantischen Feldern bei Bedarf umschiffen, indem man Umschreibung wie Sauermilchkäse, Hartkäse, gereifter Käse sowie Verweise auf die Gerinnungsart und ähnliche Informationen einsetzt. Im Rahmen eines stärker konnotativ orientierten Textes fällt der Umgang mit solchen Problemen schwerer. Denn hier sind es eher die kulturellen als die linguistischen Unterschiede, die den Übersetzer fordern. Nicht immer kann eine explizite Beschreibung (z.B. der Rückgriff auf Fachausdrücke wie Hartkäse oder Umschreibungen wie gereifter Käse) als pragmatisches oder funktionales Äquivalent hier seine Schuldigkeit erfüllen
4.

  In der Vergangenheit musste oft die Linguistik herhalten, wenn Fragen der Übersetzung erörtert werden sollten. Mit seinen Thesen stellt Jakobson das Problem in gewisser Hinsicht auf den Kopf. «No linguistic specimen may be interpreted by the science of language without a translation of its signs into other signs of the same system or into signs of another systems»
5. Die linguistische Untersuchung kommt, um es mit anderen Worten zu sagen, nicht ohne die Übersetzung in ihren verschiedenen Aspekten aus: infralinguale, interlinguale oder intersemiotische Übertragung. Es gibt keine Möglichkeit, Untersuchungen über die Sprache anzustellen, ohne diese zu interpretieren und damit ihre möglichen Übersetzungen zu betrachten. Linguistik gründet also auf Semiotik und Übersetzung im weiteren Sinne. Dies ist der revolutionäre Ansatz, der Jakobson zu verdanken ist. Ein Umbruch im Denken, der sich mit dem Übergang vom ptolemäischen zum kopernikanischen Weltbild vergleichen ließe. Denn vom marginalen Interessegebiet der Sprachwissenschaften rücken Studien über die Fragen der Übersetzung 6 zum Schwerpunkt auf, um den sämtliche anderen sprachwissenschaftlichen Fragestellungen kreisen.

  Im Unterschied zu künstlichen Sprachen, in denen sich eine ziemlich klare Grenzlinie zwischen den verschiedenen Aussagen ziehen lässt, besteht das zentrale Problem der Linguistik laut Jakobson in der Frage der «Äquivalenz» im Verhältnis zur «Differenz». Es kann nicht abgestritten werden, dass verbale Kommunikation - zumindest teilweise - möglich ist. Gleichzeitig ist festzustellen, dass verbale Kommunikation in der Regel Lücken und Grauzonen offen lässt. Die Übereinstimmung von Zeichen, Sinn und Bild im mentalen Lexikon zwei verschiedener Menschen ist nie vollkommen.

  Folglich beruht die linguistische Arbeit auf Übersetzbarkeit, auf der verbalen Übertragbarkeit von Aussagen von einem Individuum auf andere und von dem mentalen Bild, das ein Individuum hat, zur Aussage, die mit der Außenwelt kommunizieren soll: auf der Grundlage der Phänomene, die wir in den vorhergehenden Kapiteln behandelt haben.

  Da die Relation zwischen mentalem Material und dessen verbalem Ausdruck die einer gegenseitigen Beeinflussung ist, gibt es eine begriffliche Differenz, die von der unterschiedlichen Formulierung scheinbar identischer Sachverhalte abhängt. «Facts are unlike to speakers whose language background provides for unlike formulation of them»
7 behauptet der bekannte Linguist Whorf, der in Jakobsons Essay zitiert wird. Eine rigide Auslegung dieser Behauptung zöge die Anerkennung nach sich, dass jegliche Form der Übersetzung letztlich unmöglich ist. Sprache wird in diesem Falle nicht als Ausdruck mentaler Inhalte aufgefasst, sondern als Form betrachtet, die diesen mentalen Inhalten ihren Stempel aufdrückt. Mit dieser Betonung der individuellen Unterschiede auf expressiver, perzeptiver und kognitiver Ebene sind aber die Gemeinsamkeiten abhanden gekommen, die den Zwecken der Übersetzung förderlich waren und damit wegbereitend für gegenseitiges Verständnis wirkten.

  Glücklicherweise gehen aber sprachliche stets mit metasprachlichen Fähigkeiten einher, sonst wäre es um die Verständigung schlecht bestellt. «An ability to speak a given language implies an ability to talk about this language. Such a metalinguistic operation permits revision and redefinition of the vocabulary used»
8 . Jeder Sprechende ist also in der Lage sich zu dem zu äußern, was er sagt und kann bei Bedarf den eigenen Wortschatz anpassen, um die Kommunikation zu erleichtern.

 

Bibliographie

JAKOBSON R. On Linguistic Aspects of Translation, in Language in Literature, herausgegeben von Krystyna Pomorska und Stephen Rudy, Cambridge (Massachusetts), Harvard University Press 1987, S. 428-435. ISBN 0-674-51028-3.

TOROP P. Total´nyj perevod [Die totale Übersetzung]. Tartu, Tartu Ülikooli Kirjastus [Editionen der Universität von Tartu], 1995. ISBN 9985-56-122-8.

WHORF B. L. Language, Thought, and Reality. Selected Writings, herausgegeben von John B. Carroll. Vorwort von Stuart Chase, Cambridge (Massachusetts), Technology Press of Massachusetts Institute of Technology, 1956.


1 In den vorhergehenden Einheiten haben wir gesehen, dass dies auch innerhalb einer Natursprache unmöglich ist. Darüber hinaus ist auch ein und dasselbe Wort für zwei verschiedene Angehörige derselben Muttersprache nicht vollkommen gleichbedeutend.
2 Jakobson 1987, S. 430.
«Der Übersetzer, der eine Botschaft von einer anderen Quelle empfangen hat, rekodifiziert diese und gibt sie weiter».
3 «Bring Käse und Frischkäse».
4 Im dritten Teil dieses Kurses werden wir uns eingehender mit den verschiedenen Auffassungen von «Äquivalenz» befassen.
5 Jakobson 1987, p. 430.
«Zur Interpretation eines linguistischen Samples kann die Sprachwissenschaft nicht umhin, Zeichen in andere Zeichen desselben oder in Zeichen eines andren Systems zu übersetzen».
6 Der Begriff der «Übersetzung» ist hier sehr weit gefasst und entspricht der von Peeter Torop erarbeiteten Theorie der «totalen Übersetzung» (1995). Ein einführender Abriss dieses theoretischen Horizonts findet sich in den folgenden Einheiten.
7 Whorf 1956, S. 235.
«Sprechende, die unterschiedlichen Kulturkreisen angehören, erleben Fakten sprachabhängig anders, in dem Maße wie diese anders formuliert zum Ausdruck gebracht werden.»
8 Jakobson 1987, S. 431.
«Die Fähigkeit, eine Sprache zu sprechen, impliziert die Fähigkeit, auch über diese Sprache zu sprechen. Im Rahmen dieser metasprachlichen Operation ist es möglich, den verwendeten Wortschatz zu überdenken und den Erfordernissen anzupassen».


 



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