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17 - Die Übersetzungswissenschaft – Zweiter Teil

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In den vorhergehenden Einheiten wurde die Frage der verschiedenen Aspekte der Übersetzung in der von Torop vorgeschlagenen Unterscheidung angedeutet. Im Folgenden werden wir diese im Einzelnen behandeln.

  Die textuelle Übersetzung ist Schwerpunktthema der Übersetzungswissenschaft. Nicht nur, weil am meisten darüber geschrieben wurde, sondern auch weil es sich um die Spielart handelt, die man traditionell als «Übersetzung» bezeichnet.

  Unter «textueller Übersetzung» versteht man den Prozess, der einen Text in einen anderen Text überträgt. In diesem Begriff ist daher die Unterscheidung zwischen interlingualer und intralingualer Übersetzung noch nicht enthalten. Die Textparaphrase, ist ein Beispiel für textuelle Übersetzung, auch wenn die beiden Texte, Prototext und Paraphrase, im selben Code verfasst sind.

  Der Prototext (oder Prätext) ist das, was auch als «Original» oder «Ausgangstext» bezeichnet wird. Die Wortbildung mit dem Präfix proto- greift auf das griechische Wort prôtos zurück und bedeutet «zuerst», wobei es sich sowohl um eine zeitliche als auch um eine räumliche Folge handeln kann.

  Auf der Grundlage desselben Wortbildungsprinzips kann der so genannte «Zieltext», d.h. das Ergebnis der textuellen Übersetzung, auch als Metatext bezeichnet werden. Die Vorsilbe meta-, stammt aus dem Griechischen metá und bedeutet unter anderem «danach», «mit», «zwischen» und «übergeordnet». Meta- steht für Verwandlung, Sukzession, Nachzeitigkeit, Übertragung, Zusätzlichkeit, für den Wechsel zu einer übergeordneten Ebene. In unserem Zusammenhang ist auf zwei Bedeutungsinhalte von «Metatext» zu achten, die beide eine Daseinsberechtigung haben. Einerseits wird damit das Resultat der textuellen Übersetzung bezeichnet, andererseits versteht man darunter auch das Resultat der metatextuellen Übersetzung (siehe unten stehende Ausführungen).

  Am umfangreichsten wurde über die textuelle Übersetzung geschrieben, da sich hier die Übersetzungsleistung am deutlichsten erkennen lässt. Wenn von anderen Formen der Übersetzung die Rede ist, hat daher oft die textuelle Übersetzung Modell gestanden: Aus diesem Grunde muss die allgemeine Methodik der Übersetzungswissenschaft vorrangig an diesem Begriff ansetzen, wenn auch ausgehend von einem Verständnis ihrer Totalität.

  Die Tatsache, dass Übersetzungsstudien häufig auf literarischen Texten beruhen, darf Übersetzer und angehende Übersetzer nicht in die Irre leiten. Besonders wer sich mit nicht-literarischen Texten beschäftigt, sollte nicht meinen, dass die Analyse, die an einem literarischen Text ansetzt, nur für diese Textsorte oder gar nur für diesen spezifischen literarischen Text Gültigkeit besitze. Denn diese Annahme steht in klarem Kontrast zu einem der grundlegenden Postulate des Konzepts der totalen Übersetzung, welches besagt, dass im Brennpunkt der übersetzungswissenschaftlichen Überlegungen der Prozess der Übersetzung stehen muss. Dieser hat einen elementaren Kern, der allen Formen der Übersetzung gemein ist, umso mehr trifft dies dann für alle Typen der textuellen interlingualen Übersetzung zu.


  Unter metatextueller Übersetzung ist ein Prozess zu verstehen, der den Text nicht schlicht in einen anderen Text, sondern in eine andere Kultur überträgt. Anders ausgedrückt, ist der Metatext das Gesamtbild, das sich eine Kultur von einem Text macht. Das kulturelle Gesamtbild des Textes wird nicht nur durch diesen selbst bestimmt, sondern auch durch das, was man in dieser Kultur über den Text sagt. Dazu gehört schon die öffentliche Anspielung auf den Text, die mündlich oder schriftlich erfolgen kann. Eine grundlegende Rolle spielt neben Zitaten, Rezensionen oder der Aufnahme in ein enzyklopädisches Werk auch der kritische Apparat der Übersetzung, d.h. Vor- und Nachwort, sowie kritische Anmerkungen und Fußnoten. Kurz alles, was in irgendeiner Weise dazu beiträgt, ein Gesamtbild von dem Text zu entwerfen.

  Wenn die metatextuelle Übersetzung intralingual ist, besteht der Metatext aus allen bereits zitierten Elementen. Handelt es sich jedoch um eine interlinguale Übersetzung, so gehört auch der übersetzte Text selbst zu den metatextuellen Elementen und kann, wie vor Kurzem bereits angedeutet, durchaus als «Metatext» bezeichnet werden. Im eigentlichen Sinne ist der Text in der übertragenen Form jedoch nur eines der Elemente einer interlinguistischen metatextuellen Übersetzung.

  In bestimmten Fällen sind textuelle und metatextuelle Übersetzung simultane und kontextuelle Vorgänge, die einander begleiten, wie Torop betont: «Wenn die Ergänzung der Übersetzung durch Vorwort, Randglossen, Illustrationen, Glossare, usw. direkt vom Übersetzenden selbst oder seinem Verleger ausgeführt wird, ist eine Gleichzeitigkeit von textueller und metatextueller Übersetzung möglich» 1.

  In bestimmten Fällen wird der Auftrag für die interlinguale Übersetzung, das Vorwort und den kritischen Apparat an unterschiedliche Fachleute vergeben, in diesem Fall ist der Metatext ein kollektives, nicht immer koordiniertes oder konsequentes Werk.


  Die intertextuelle Übersetzung. In der zeitgenössischen Kultur gibt es keinen Text der ganz autonom und unabhängig von einem Kontext entsteht. Die Tatsache, dass Informationen eine immer schnellere und kapillare Verbreitung finden, macht diese Feststellung nur noch treffender. Diese Erscheinung begünstigt einerseits die Mondialisierung (weltweite Integration durch verstärkten internationalen Austausch; Anm. d. Übers.) der Kultur, andererseits fördert sie jedoch auch die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Kulturen und spornt diese zur Entfaltung ihrer Differenzen an.

  Der große russische Semiologe Jurij Lotman (1922-1993) hat 1984 ein Essay mit dem Titel Über die Semiosphäre zu diesem Thema veröffentlicht. Unter Anlehnung an das Modell der Biosphäre bei Vernadskij 2 wird das Kulturuniversum hier mit einem Organismus verglichen. Dieser Organismus ist zwar wohl eher psychologisch als biologisch definiert, zeigt aber doch die typischen Eigenschaften eines Systems:

[...] die Semiosphäre der zeitgenössischen Welt, die im Zuge ihrer ununterbrochenen räumlichen Ausbreitung im Laufe der Jahrhunderte einen universalen Charakter angenommen hat, kann Satellitensignale ebenso einverleiben wie Dichterverse oder Tiergeräusche. [...] Die dynamische Entwicklung der Elemente der Semiosphäre (der Substrukturen) tendiert zur Spezifizierung und steigert so die innere Vielfalt der Gesamtheit3.


Zu einem Zeitpunkt, in dem mancher die Angst vor der Verflachung der lokalen Kulturen an die Wand malt und fürchtet, dass die Telematik zur Standardisierung des Geschmacks und zur Auslöschung von Traditionen führe, hat diese Aussage etwas Tröstliches:

[...] der Prozess des gegenseitigen Informationsaustauschs und die Einbettung in die allgemeine Weltkultur bringt nicht nur die Annäherung zwischen unterschiedlichen Kulturen hervor, sondern auch ihre Spezialisierung. Denn durch den Eintritt in die allgemeine Weltkultur beginnt ein Kulturkreis die eigene Originalität stärker zu kultivieren. [...] Eine von anderen abgeschnittene Kultur ist immer "für sich selbst", "natürlich" und "durch Gewohnheitsnormen geregelt". Sobald sie Teil eines größeren Systems wird, kommt sie mit einem von außen an sie herantretenden Gesichtspunkt in Berührung und entdeckt die eigene Spezifizität4.


Diese Argumentation lässt eine Analogie zu den Überlegungen erkennen, die zu Beginn dieses Kurses (Kapitel 5) im Hinblick auf die linguistische Selbsterfahrung angestellt wurden. Die eigene verbale Ausdrucksweise erscheint «natürlich», solange man nicht in der Lage ist, sie von außen zu beobachten und beginnt, sich über ihre Mechanismen Gedanken zu machen - mit anderen Worten: bis man beginnt, eine metalinguistische Selbsterfahrung zu entwickeln.

  Diese Überlegungen, die von semiotischer und zugleich psychologischer Natur des Ansatzes zeugen, legen nahe, die Frage der gegenseitigen kulturellen Beeinflussung systemtheoretisch anzugehen. So ist es dem Literaturkritiker Harold Bloom, einem Theoretiker der kulturellen Einflüsse auf dem Gebiet der Literatur, gelungen, die Systemtheorie mit den Prinzipien der Freudschen Psychoanalyse zu verschmelzen. Innerhalb des Subsystems Kultur macht er dabei einen Mechanismus ausfindig, der den Autor eines Textes in der Position des Sohnes sieht, welcher mühsam versucht, seine Identität gegen die kulturelle Vorherrschaft der "Väter" - d.h. gegen aller vorhergehenden literarischen Vorbilder - durchzusetzen.

  Diese Anschauungsweise lässt deutlich den Einfluss des Freudschen Begriffs vom Ödipuskomplex erkennen. Denn die Identitätsbildung eines Autors wird als Metapher der Identitätsbildung eines Sohnes gesehen, es wird, anders ausgedrückt, ein Konflikt mit der Vaterfigur postuliert: Im Hinblick auf kulturelle Einflüsse sind alle Vorläufer Vaterfiguren, die je nach ihrer kulturellen Bedeutung mehr oder weniger "im Weg" stehen. Bei Bloom wird der Text sogar

a psychic battlefield upon which authentic forces struggle for the only victory worth winning, the divinating triumph over oblivion 5.


  Jeden Autor nervt es entsetzlich, so Bloom, sich selbst als wenig originell zu erleben und beim Schreiben den Zwang der Reaktion auf seine Vorläufer zu spüren -so wie es Kinder als lästig empfinden, nicht nach eigenem Charakter zu handeln, sondern auf den Charakter des Vaters zu reagieren. Aus diesem Grunde neige der Autor dazu, die Existenz dieser Einflüsse abzuleugnen oder, wie es im psychoanalytischen Jargon heißt, diese zu verdrängen. Wie jeder Mechanismus, der dazu tendiert, die Realität abzuwandeln, um sie erträglicher zu machen, hat diese Verdrängung eine Nebenwirkung: die Unfähigkeit, die Werke der Vorgänger bewusst zu interpretieren. Bloom beschäftigt sich eingehend mit dieser Form der Interpretation, die sich ihrer selbst nicht bewusst ist und dadurch an geistiger Klarheit verliert. Laut dieser Anschauung entsteht jedes literarische Werk als Fehlrezeption («misinterpretation») vorbestehender Werke und jedes Lesen, jede Interpretation, ist letztlich Fehllesen («misreading»).

 

Bibliographie

BLOOM H. The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry. New York, Oxford University Press, 1974.
Die Zitate stammen aus der italienischen Übersetzung: L'angoscia dell'influenza. Una teoria della poesia, herausgegeben von Mario Diacono, Mailand, Feltrinelli, 1983. ISBN 88-07-10001-0.

BLOOM H. A Map of Misreading. New York, Oxford University Press, 1975.

BLOOM H. Poetry and Repression: Revisionism from Blake to Stevens. New Haven, Yale University Press, 1976.

LOTMAN JU. O semiosfere [Über die Semiospären], in Töid märgisüsteemide alalt/Trudy po znakovym sistemam/Sign Systems Studies, Band 17, Tartu, 1984. ISSN 1406-4243.
Deutsche Übertragung in Zeitschrift für Semiotik 12 (4), 1990 Bruno Osimo zitiert aus der italienischen Übersetzung: La semiosfera, herausgegeben von Simonetta Salvestroni, Venedig, Marsilio, 1985. ISBN 88-317-4703-7.

TOROP P. Total´nyj perevod [Die totale Übersetzung]. Tartu, Tartu Ülikooli Kirjastus [Editionen der Universität Tartu], 1995. ISBN 9985-56-122-8.

VERNADSKIJ V. I. Biosfera [Der Mensch in der Biosphäre], Moskau, 1967. Deutsche Übertragung in: V. I. Vernadskij – Der Mensch in der Biosphäre. Zur Naturgeschichte der Vernunft.
Hofkirchner, Wolfgang (Hrsg.) (1997) Wien etc. Lang


1 Torop 1995, S. 13.
2 Vernadskij 1967.
3 Lotman 1985, S. 69.
4 Lotman 1985, S. 76.
«ein psychisches Schlachtfeld, auf dem authentische Kräfte um den einzigen Sieg kämpfen, der es wert ist, der vergöttlichende Triumph über die Vergessenheit». Bloom 1976, S. 2. Unsere Übersetzung.


 



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