In der vorhergehenden Einheit führte der Diskurs über die intertextuelle Übersetzung zur Erweiterung unseres Untersuchungsgegenstandes auf die gesamte Semiosphäre und die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Kulturen.
Wir wollen heute an der Aussage anknüpfen, dass es in diesem Kulturuniversum keine Texte gibt, die aus ihrem Zusammenhang gelöst entstehen, die außerhalb des Systems der Semiosphäre geschrieben werden. Wenn ein Autor einen Text verfasst, entspringt also das, was er schreibt, teils externen Einflüssen, teils seiner persönlichen Verarbeitung. Die Kreativität eines Autors zeigt sich aber nicht nur in seinen Eigenschöpfungen, sondern auch in seiner Fähigkeit zur Verdichtung von Fremdmaterial.
Wenn der Verfasser explizit oder implizit, bewusst oder unbewusst fremdes Textmaterial einarbeitet, erstellt er eine intertextelle Übersetzung und das Fremdmaterial wird als Intertext 1 bezeichnet. In welchem Code das einverleibte Material ursprünglich vorlag war, spielt an dieser Stelle noch keine Rolle. Interessant ist hingegen, ob es sich um ein Zitat handelt und wenn ja, ob dieses explizit oder implizit zitiert wird. Ist eher eine Anspielung eingewebt worden, dann stellt sich die Frage, wie deutlich oder verschleiert sich diese dem Leser zu erkennen gibt. Oder lässt der Autor ein fernes Echo von Textfragmenten anklingen, die er in der Semiosphäre absorbiert hat? Vermittelt er den Widerhall von Stimmen, deren Herkunft er sich selbst nicht oder nur kaum bewusst ist?
Torop äußert sich dazu folgendermaßen: «Ein Textgedächtnis ist sowohl Autoren, als auch Übersetzern und Lesern eigen»2. Dieser knapp gehaltene Kommentar hat weit reichende Implikationen für die Praxis des Übersetzens. Es reicht nicht, dass der Autor mit einem Textgedächtnis begabt ist, welches es ihm gestattet, "mit fremden Zungen" zu schreiben". Auch der Übersetzer muss - wenn er gute Arbeit leisten will - in der Lage sein, die Präsenz solcher Texte, die von dritter Herkunft sind, wahrzunehmen, um sie an den Leser seines Metatextes weitergeben zu können.
Wenn ein Autor "Zitate" in seinen Text einbaut, ohne diese in Anführungszeichen zu setzen oder anderweitig grafisch abzusetzen, ist es wichtig, dass der Übersetzer diesen impliziten Bezug erkennt und sich überlegt, auf welche Weise er dem Leser die Präsenz dieser Passagen enthüllen könnte. Die Strategien dieser Vermittlungsleistung können von Mal zu Mal anders ausfallen und im Rahmen der Übersetzung bleiben oder auch nicht.
Dass auch der Leser ein Textgedächtnis hat, ist genauso wichtig, denn es bedingt ja, dass er die Existenz von fremden Textbausteinen (Intertext) im Schreiben eines Autors mitbekommt.
Ist das Textgedächtnis oder das mentale Lexikon eines Lesers zu beschränkt, um die intertextuellen Bezüge aufzunehmen, dann wirkt sich das ausschließlich auf sein eigenes Textverständnis und auf diesbezügliche Informationen aus, die er eventuell an andere Personen weitergibt. Stößt aber der Übersetzer an die Grenzen des eigenen Textgedächtnisses, so besteht die Gefahr, dass die Markierung von fremden Textbausteinen im Metatext unterschlagen wird. Und diese Unterlassung würde nicht nur für einen, sondern für alle Leser dieses Metatextes einen Verlust der Textmarkierung bedeuten.
Für die intratextuelle Übersetzung gilt all das, was bereits für die intertextuelle Übersetzung gesagt wurde. Mit dem Unterschied, dass es sich in gewisser Weise um "innere Zitate" handelt, mit denen der Autor auf sich selbst verweist und den Leser von einem Punkt seines Werkes auf einen anderen Punkt lenkt. Es handelt sich also um die Textur einer Autorenpoetik. Während der Intertext die Semiosphäre zum Bezugssystem hat, wirkt der Intratext auf das Mikrosystem innerhalb des auktorialen Makrotextes.
Die extratextuelle Übersetzung fällt in die Sphäre der intersemiotischen Übersetzung, wie sie Jakobson beschrieben hat. Im Allgemeinen geht es dabei um die Umsetzung eines aus verbalem Material bestehenden Originals oder Prototextes in bildhaften Ausdruck bzw. Film oder umgekehrt.
Jede Kunstgattung hat Ausdrucksformen, die sich auf ganz eigene Weise artikulieren und aus vollkommen unterschiedlichen Elementen zusammengesetzt sein können. Doch gleichzeitig ist es möglich, die natürliche Sprache als Ausdrucksmittel zur Beschreibung dieser Gestaltungen heranzuziehen (Metasprache). So ist die Filmkritik im Wesentlichen eine in natürlicher Sprache verfasste Beschreibung der künstlerischen Ausdrucksweise bzw. der "Sprache", die im Film gesprochen wird3.
Das Spektrum der künstlerischen Gestaltung ist natürlich breit gefächert, und jeder Kunstgattung bieten sich Ausdrucksmöglichkeiten, die anderen Künsten versagt bleiben. Im Film liegt es an der Kreativität des Filmemachers aus den unterschiedlichen, ihm zur Verfügung stehenden Ausdrucksformen jene auszuwählen und miteinander zu kombinieren, die anderen Codetypen vielleicht nicht zugänglich sind. Torop zitiert ein sehr interessantes Beispiel für Kreativität in der Auswahl kinematographischer Kunstgriffe:
[...] in seinem letztem Film Der diskrete Charme der Bourgeoisie [...] zeigt Buñuel die Unfähigkeit eines älteren Mannes, eine jüngere Frau (dann junge Ehefrau) zu verstehen. Dies geschieht mit Ausdrucksmitteln, die im Psychischen agieren. Dazu lässt er zwei Schauspielerinnen die Rolle der gleichen Frau spielen. Im raumzeitlichen Handlungsspielraum (Chronotopos) begegnet der Protagonist im Geflecht der Handlungslinien zwei verschiedenen Frauen, die erst im psychologischen Chronotopos miteinander verschmelzen: Einzeln genommen, entsprechen beide Gestalten Szene für Szene einer präzisen und durchaus konkreten Frau, mysteriös und unverstanden bleibt diese im metaphysischen Chronotopos 4.
Ein Kunstgriff, der sich nicht einfach auf die Literatur übertragen ließe. Denn was oben genannter Film in Bildern zeigt (der Zuschauer wird plötzlich mit einer anderen Schauspielerin konfrontiert, merkt aber, dass es sich um den gleichen Charakter handelt), wäre mit den Mitteln der natürlichen Sprache nur schwer nachzuvollziehen. Statt der langwierigen und ausschweifenden verbalen Erklärungen, die dazu nötig wären, müsste man sich etwas anderes einfallen lassen.
Für die Verfilmung eines Buches haben diese Überlegungen tief greifende Bedeutung. Denn das Prinzip der Äquivalenz kommt bei dieser Form der Übersetzung begreiflicherweise überhaupt nicht zum Tragen. Der Filmemacher ist vielmehr im Hinblick auf die Ausschöpfung des Potenzials unterschiedlicher Ausdrucksformen und Sprachcodes gefordert. Analysen, die sich mit ähnlichen Fragestellungen auseinandersetzen, gehören im weiteren Sinne zur Analytik der Übersetzung, wenn diese in ihrer Totalität verstanden wird.
Aus allen Ausführungen, die an dieser Stelle über die verschiedenen Spielarten der Übersetzung gemacht wurden, wird deutlich, dass ein rein linguistischer Ansatz in der Übersetzungswissenschaft inadäquat wäre, da er «nicht die gesamte Komplexität der Übersetzungsproblematik erfassen kann» 5. Der methodologische Beitrag der Semiotik ist unverzichtbar. Denn die semiotische Metasprache ist stärker dazu in der Lage, sowohl andere Codes oder Zeichensysteme, als auch die kulturellen Aspekte der Übersetzungsrezeption in die eigenen Analysen einzubeziehen6.
Im Mittelpunkt der Übersetzungswissenschaft muss ein universales Modell des Übersetzungsprozesses stehen, das sich auf alle Formen von Übersetzung, die wir angesprochen haben, anwenden lässt. Und auf der Grundlage dieses Modells soll eine Beschreibung der Abläufe versucht werden, die im Rahmen des Übersetzungsprozesses stattfinden, ohne sich zunächst die Frage nach der Wertung dieser Prozesse zu stellen. Denn «eine Wissenschaft, die sich das Ziel stellt, die Übersetzung als Prozess zu beschreiben, sollte nicht normativ gepolt sein, sondern theoretische Arbeit leisten» 7.
Bibliographie
EVEN-ZOHAR I. Polysystem Studies. Poetics Today, Jahrgang 11, Nr. 1, 1990.
GORLÉE, D. L. Semiotics and the problem of translation with special re-ference to the semiotics of Charles S. Peirce. Amsterdam, Rodopi, 1994.
REVZIN I., ROZENCVEJG V. Osnovy obščevo i mašinnogo perevoda [Grundlagen der allgemeinen und automatischen Übersetzung], Moskvà, 1964.
TOURY G. In Search of a Theory of Translation, Tel Aviv University, The Porter Institute for Poetics and Semiotics, 1980.
TOROP P. Total´nyj perevod [La traduzione totale]. Tartu, Tartu Ülikooli Kirjastus [Editionen der Universität Tartu], 1995. ISBN 9985-56-122-8.
1 Torop 1995, S. 119-163.
2 Torop 1995, S. 13.
3 Torop 1995, S. 170.
4 Torop 1995, S. 176.
5 Torop 1995, S. 14
6 Gorlée 1993; Even-Zohar 1990; Toury 1980.
7 Revzin, Rozencvejg 1964, S. 21.
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