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8 - Das Schreiben als geistiger Prozess

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  Gegenstand der vorhergehenden Einheiten war die Betrachtung der Lektüre und wie diese als eine Art Übersetzung von der verbalen Sprache in geistige Materie oder - wenn man so will - von der äußeren in die innere Sprache, gesehen werden kann. Der Lesende nimmt den Text wahr, indem er ihn interpretiert und nach möglichen Aussagen sucht, die der Autor bei seiner Formulierung im Sinn haben konnte. (Wir werden später noch näher darauf eingehen, was unter «Autor» zu verstehen ist.) In diesem Zusammenhang haben wir auch den Begriff der Kognitiven Typen eingeführt, als mentale Bilder, die dem Individuum dabei helfen, die Okkurrenzen der Erfahrung zu katalogisieren, um gegenwärtige und zukünftige Wahrnehmungen zu organisieren.

  Wenn der Gegenstand der Wahrnehmung nicht in Wörtern besteht, muss die Wahrnehmung nicht unbedingt über die Verbalisierung erfolgen: Das Individuum kann etwas wahrnehmen und seine Sensationen katalogisieren, ohne diese in Worte zu übersetzen. Und das hindert den Betreffenden nicht daran, den Gegenstand seiner Wahrnehmung bei Bedarf wiedererkennen zu können.

  «Die erste Eigenart der inneren Sprache ist ihre ganz spezielle Syntax. » [...] Sie «besteht in der scheinbaren Zusammenhangslosigkeit, dem fragmentarischen Charakter und der Verkürzung der inneren Sprache im Vergleich zur äußeren »1.Nach Wygotsky zeichnet sich die Syntax der inneren Sprache also «durch gesetzmäßige Auslassung des Subjekts und der dazugehörigen Wörter unter Beibehaltung des Prädikats und der dazugehörigen Wörter aus». Und in dieser Prädikativitätsthese liegt das Kernstück von Wygotskys Beschreibung der inneren Syntax. «Diese Tendenz zum prädikativen Charakter der Syntax der inneren Sprache zeigt sich in allen unseren Versuchen mit einer strengen und fast ausnahmslosen Regelmäßigkeit, so dass wir schließlich zuletzt unter Verwendung der Interpolationsmethode den reinen und absoluten prädikativen Charakter als syntaktische Grundform der inneren Sprache annehmen müssen. »2.

  Denn es ist nicht notwendig «mit uns selbst [...] zu expliciten Formulierungen zu greifen [...], in der inneren Sprache brauchen wir nie das zu nennen, wovon die Rede ist, d.h. das Subjekt. Wir beschränken uns nur auf das Prädikat». Die Übersetzung in den äußeren Code, den wir mit anderen gemeinsam haben, wird also erst im Rahmen unseres sozialen Lebens zum unverzichtbaren Akt, wenn wir den Inhalt unserer kognitiven Akte oder Wahrnehmungen mit anderen teilen möchten.

  Es ist auch gesagt worden, dass die Relation zwischen Signifikat und Signifikant willkürlich ist, wie nicht zuletzt an den Unterschieden in den natürlichen Sprachen zu sehen ist: Zwischen der Wahrnehmung des Objekts Pferd und der Lautbildung des Wortes «Pferd» oder den Buchstaben, die P f e r d zusammensetzen, besteht kein zwingender Zusammenhang, wenn das gleiche Objekt für den Franzosen «cheval» heißt, für den Engländer ein «horse» ist und so weiter.


1 Vygotskij 1990, p. 363.
2 Vygotskij 1990, p. 365.


  Wie bereits erwähnt, gibt es keine hundertprozentige Übereinstimmung in den semantischen Feldern, die zwei Individuen mit einem bestimmten Signifikanten verknüpfen. Denn jeder von uns verbindet mit diesem Signifikanten - auf mehr oder weniger bewusste Weise - bestimmte subjektive Erfahrungen, die ganz andere Erinnerungen, Sensationen und Bilder in uns wachrufen. Umso weniger kann erwartet werden, dass die semantischen Felder von «Pferd», «cavallo», «cheval» und «horse» deckungsgleich sind.

  Anders ausgedrückt katalogisiert jede Natursprache (und jeder Idiolekt, das heißt der eigene Sprachgebrauch eines «Individuums, seine Sprache bzw. sein persönlicher "Stil", der sich von der Gruppe oder Gemeinschaft, in der er lebt, abhebt»3) das menschliche Wissen auf unterschiedliche Weise. Sprache ist daher nicht nur ein Mittel zur Kommunikation mit anderen Artgenossen, sondern auch ein System zur Einordnung von Wahrnehmungen, Ideen, Bildern und Gefühlen.

  Demnach existieren zwei geistige Systeme zur Katalogisierung, die unabhängig voneinander oder parallel zueinander funktionieren oder sich überschneiden: Das subjektive, nur nach innen wirkende System der Kognitiven Typen und das System der verbalen Einordnung mit der zusätzlichen Valenz der Kommunikation mit der Außenwelt, wenn diese auch partiell und unvollkommen ist.

  Nehmen wir das Beispiel der Träume. Schon Freud hat in seinem Werk Die Traumdeutung die grundlegenden Merkmale der Mechanismen herausgearbeitet, die zur Traumbildung führen 4. Träume sind nicht aus Worten gemacht, sie entspringen unserer Innenwelt. «Denkprozesse und Affekte werden im Traum in Form von Bildern und (seltener) Lauten und Klängen dargestellt. In den Träumen tauchen auch andere Sinneserfahrungen auf, die Geruchs- und Geschmacksempfindungen, Berührungssinn oder kinästhetische Empfindungen beinhalten. [...] zwei Elemente der Traumarbeit bestehen in der plastischen und symbolischen Darstellung einerseits, d.h. in der Umsetzung von Gedanken in sinnlich wahrnehmbare Symbole und Bilder, und in der sekundären Verarbeitung andererseits, d.h. im Zusammenschnitt der einzelnen Bilder und Traumelemente zu einer Geschichte oder Aktion mit einem Minimum an Kohärenz. Manchmal fällt diese sekundäre Verarbeitung (oder Revision) aus und der Traum erscheint in unseren Erinnerungen als eine zusammenhanglose, wirre und bizarre Bilder- oder Satzfolge».5

  Wenn wir uns beim Erwachen an einen Traum erinnern, so sind diese Erinnerungen - unabhängig davon, ob wir das Gefühl einer klaren Rückschau haben oder nicht - von nonverbaler Natur. Wird dieses Material so belassen wie es ist, geht es den Weg aller anderen Erinnerungen und wird im Laufe der Zeit - mehr oder weniger schnell - verblassen und vergessen.


3 Marchese 1991, S. 140.
4 Freud 1900.
5 American Psychoanalytic Association 1993, S. 195-196.


  Ein anderes Schicksal widerfährt dem Traummaterial, wenn wir versuchen, den Inhalt des Traumes niederzuschreiben oder jemandem zu erzählen. Dazu ist eine regelrechte Übersetzungsarbeit notwendig. Bilder, Laute und Sensationen anderer Art müssen nun verbal ausgedrückt werden. Doch wenn wir einen Traum in Worte fassen, bleibt immer ein Gefühl der Unvollständigkeit dieser Übersetzungsarbeit an uns hängen. Im Text, den wir erstellt haben, fehlen Sensationen und Bilder, die sich der verbalen Beschreibung entziehen oder in Worte gefasst an Ausdruckskraft verlieren, irgendwie ärmer dastehen.

Träume hinterlassen mitunter starke Eindrücke im Träumer, eine Art "Nachgeschmack", von dessen Einfluss wir uns stundenlang nicht mehr befreien können, obwohl uns rational bewusst ist, dass sich das Traumgeschehen nicht in der äußeren Welt, sondern nur in unserer Innenwelt, in unserer Vorstellung abgespielt hat. Nur selten jedoch gelingt es dem Träumer, Außenstehenden die Intensität dieser Eindrücke zu vermitteln. Es sei denn, er verfügt über die Ausdruckskraft, seine Traumerlebnisse in irgendeiner Form - bildhaft, multimedial, dichterisch, musikalisch oder auch in der Körpersprache - künstlerisch umzusetzen.

  Darüber hinaus entgeht unserem rationalen Tagesbewusstsein die Logik gewisser Traumpassagen: Wie kam ich, ohne den geringsten Weg zurückzulegen, von dem Berggipfel, auf dem ich stand, zurück auf unseren Wohnzimmerteppich? So kommt es, dass uns unser Drang nach Berichterstattung oder das, was wir in unserem Zitat als sekundäre Verarbeitung bezeichnet haben, dazu veranlasst, das ursprüngliche Traummaterial - oft unbewusst - durch Korrekturen, Ergänzungen, Verdichtungen so weit umzumodellieren, dass die Geschichte einen Sinn erhält, die im ursprünglichen mentalen Bildmaterial womöglich gar nicht angelegt war.

  Wir müssen, schreibt Wygotsky, davon ausgehen, dass «[...] dass die innere Sprache ein seiner psychologischen Natur nach besonderes Gebilde, eine besondere Art der Sprachtätigkeit ist, die ihre spezifische Eigenart besitzt und in einer komplizierten Beziehung zu anderen Arten der Sprachtätigkeit steht. Um diese Beziehungen der inneren Sprache einerseits zum Denken und andererseits zum Wort zu ergründen, muss sie vom einen wie vom anderen unterschieden, muss ihre spezielle Funktion ermittelt werden. [...] Es geht hier nicht um die Vokalisierung. Das Vorhandensein oder das Fehlen einer Vokalisation selbst begründet nicht die Natur der inneren Sprache, sondern ist deren Folge. In gewissem Sinne kann gesagt werden, dass die innere Sprache nicht der äußeren vorausgeht oder diese im Gedächtnis reproduziert, sondern der äußeren Sprache entgegengesetzt ist. Die äußere Sprache ist die Verwandlung eines Gedankens in Worte, ist seine "Materialisierung" und Objektivierung »6.

  Diese Materialisierung, die zwar einerseits unvollständig ist und Kommunikationslücken und Restbestände hinterlässt, kann andererseits doch zu einem wertvollen Instrument werden, um die Kontrolle, die wir über unsere mentalen Vorgänge haben, zu steigern. Seit Freud beruhen zahlreiche Therapieansätze zur Behandlung der verschiedenen Neuroseformen auf der verbalen Arbeit: Der Patient versucht, seine Ängste, Träume und mentalen Assoziationen in Worte zu fassen und der Therapeut unterstützt diesen Prozess der Objektivierung und Materialisierung, der häufig befreiend wirkt. Mit der verbalen Materialisierung werden intime Zusammenhänge zwischen verschiedenen Gedanken und Affekten evident, deren Existenz uns vorher unbewusst war - wie Hypertextverknüpfungen, die vorläufig deaktiviert wurden. Dies kann in einigen Fällen Knoten lösen7 und bei der Überwindung von Spannungen und mentalen Kurzschlüssen helfen, die möglicherweise Grundlage neurotischer Symptome waren. So fühlt sich der Patient erleichtert und erweitert zugleich sein Introspektionsvermögen.

  Schreiben ist nicht nur eine Phase des professionellen Übersetzungsprozesses, so wie wir ihn verstehen, sondern bedeutet auch, aus der inneren Sprache in die verbale äußere Sprache zu übersetzen. Es handelt sich daher in operativer Hinsicht um eine Aktivität, die viel mit der intersemiotischen Übersetzung gemeinsam hat. Die Tatsache, dass anstelle eines Textes das übersetzt werden muss, was Wygotskij als die «innere Sprache» und Eco als «Kognitive Typen» bezeichnet, hat viele Implikationen, ebenso wie die Tatsache, dass die verbale äußere Sprache nicht nur Ausdrucksmittel sondern auch Instrument zur Katalogisierung der Erfahrung ist. Diese Implikationen betreffen den Geist des Schreibenden, den Zweck seines Schreibens sowie den Adressat dieses Schreibens, wobei es sich um eine leibliche Person handeln kann (bei Briefen, beispielsweise). Es kann aber auch (wie bei einem Buch) ein rein hypothetischer Adressat die Zielperson sein, unser Modell- oder Musterleser.


6 Vygotskij 1990, p. 346-347.
7 Laing 1970.


  Das Schreiben kann auch als Versuch der Selbsttherapie gelebt werden, als Reflexion, die ursprünglich an keinen anderen adressiert ist, als an uns selbst. Für manche Autoren liegt genau hierin die wahre Motivation zum Schreiben. Anna Maria Ortese hat geschrieben: «Schreiben heißt nach Ruhe suchen und diese manchmal zu finden. Es heißt heimkehren. Genau wie Lesen. Wer wirklich schreibt und liest, also nur für sich selbst, der findet nach Hause zurück, fühlt sich wohl. Wer nie liest oder schreibt oder dies nur auf Befehl tut - aus praktischen Zwecken - ist nie zu Hause, und wenn er noch so viele Domizile sein eigen nennt. Es bleibt ein armer Mensch, der zur Verarmung des Lebens beiträgt»8.

  In einem Exkurs über Marco Belpolitis Erzählung La linea evapora nel piano honoriert Gianni Celati die geometrische Metapher, die das Schreiben als eine lineare Tätigkeit zeigt, deren Produkte sich vervielfachen und zu Zweidimensionalität gelangen. «Aber diese Idee der Linie, die verdampft, um sich in der Ebene zu sublimieren, ruft nicht nur bildhaftere Gedanken an die Geometrie wach, als dies gewöhnlich der Fall ist, sondern führt uns auch vor Augen, dass Schreiben genau in einer Linie besteht, die eine Ebene erzeugt. So sieht man, wie die Träumereien des Intellekts Wellen schlagen (Meister Italo Calvino)»9.

  In den folgenden Einheiten werden wir uns damit befassen, welche Auswirkungen all diese Auffassungen vom Schreiben auf den Übersetzungsprozess haben.


8 Citata in Celati 1992, S. 11 der Originalausgabe.
9 Celati 1992, S. 22.


Bibliographie

AMERICAN PSYCHOANALYTIC ASSOCIATION Psychoanalytic terms and concepts. Herausgegeben von B. E. Moore e Bernard D. Fine. New Haven e London, Yale University Press, 1990. ISBN 0-300-04701-0.

CELATI G., Herausgeber, Narratori delle riserve. Mailand, Feltrinelli, 1992. ISBN 88-07-01439-4.


FREUD S. Die Traumdeutung. Leipzig, Franz Deuticke, 1900.


LAING, R. D. Knots.
New York, Pantheon Books, 1970. ISBN 0-394-43211-8
Laing, RD: Knoten. Reinbeck: 1993.

MARCHESE A. Dizionario di retorica e di stilistica. br> Milano, Mondadori, 1991. ISBN 88-04-14664-8.

WYGOTSKIJ L. S. Denken und Sprache. Originalausgabe: Myšlenie i rec´. Psihologičeskie issledovanija. Moskvà-Leningrad, Gosudarstvennoe social´no-èkonomičeskoe izdatel´stvo, 1934, a cura di L. Mecacci. Bari, Laterza, 1990. ISBN 88-420-3588-2. Hier zitiert nach: Linguistik-Server Essen, Julia Braun, Innere Sprache http://www.linse.uni-essen.de und Mauthner Gesellschaft, Verein der Sprachkritiker http://www.mauthner-gesellschaft.de/mauthner/tex/wygot1.html )


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